Donnerstag, 24. Mai 2018

1968 aus der Sicht von 2018

"[...] Mithin fand schon in den zeitgenössischen Medienberichten eine Verengung der Aufmerksamkeit statt. Es etablierte sich ein Tunnelblick auf Westberlin und Frankfurt, die Universitäten, junge männliche Eliten und die radikale Linke (sprich den SDS). Wenn es fernab der Großstädte, außerhalb des SDS und abseits der Vorzeigekommunen brodelte, so wurde dies öffentlich nicht entsprechend gespiegelt. In den folgenden fünf Jahrzehnten setzte sich der Trend fort.[10] In ihren Bezügen auf "Achtundsechzig" bildeten Presse und Rundfunk einen kleinen Ausschnitt dessen ab, was die zeitgenössische Revolte ausmachte – und zwar nur denjenigen Teil der Akteure, der die Medien für sich gewann. 

Der so entstandenen klassischen Erzählung folgte die Zeitgeschichtsschreibung. Getragen von Zeitzeugen, die ehemals selbst Aktivisten gewesen waren, schrieben Politologen und Historiker eine mal mehr, mal weniger kritische Geschichte von "Achtundsechzig", in der männliche Studenten zu Standartenträgern des Wandels wurden, Auseinandersetzungen in Hörsälen und der Ideenwettstreit der Linken im Mittelpunkt standen.[11] Selbst abwägende Beiträge der jüngsten Zeit, die das westdeutsche "Achtundsechzig" eher als Kulturrevolution oder massenmediales Spektakel denn als politische Rebellion verstehen, bleiben der Verengung auf SDS, Studenten und Berlin fast immer treu. Ausgesprochen rar sind Studien über Aktivisten, die nicht ins traditionelle Raster passen, wie etwa die konservative Jugend, Ostberliner Kommunarden, Frauengruppen oder Arbeiter.[12] 

Denn die klassische Erzählung von "Achtundsechzig" übergeht große Bevölkerungsgruppen: die Frauen, die Älteren und Alten, die weniger Gebildeten, die Unterschichten, die kleinstädtische und ländliche Bevölkerung. Nicht zum ersten Mal spiegelt sich damit in der Forschung eine unbewusste Konzentration der Historiker auf diejenigen, die ihnen selbst ähneln: auf Bildungsbürger, Männer, Universitäten und die urbanen Eliten. Wie diese Bindung an das Bildungsbürgertum dazu verführen kann, die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Zäsuren zu verkennen, zeigt beispielsweise die Deutungsgeschichte des Kriegsausbruchs 1914. Jahrzehntelang war unsere Vorstellung vom Blick auf die akademische männliche Jugend geprägt, über deren enthusiastische Kriegsbegeisterung die Tagespresse damals wortreich geschwärmt hatte. Die Beschwörung des "Augusterlebnisses" der Freiwilligen und der "Ideen von 1914" entpuppte sich erst in den 1990er Jahren als irreführend, als neue Quellen hinzugezogen wurden, die die ganz andere, abwartend-skeptische Reaktion der Dörfler und Arbeiter auf den Beginn des Weltkriegs erschlossen.[13] [...]" (Christina von Hodenberg: "Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven auf Achtundsechzig" (17.9.2018)


"[...] Nassehi: 1968 ist ein Erinnerungsgenerator, den man für unterschiedlichste Zwecke instrumentalisieren kann. Darum arbeiten sich ja nicht nur Linke wie Claus Leggewie daran ab, sondern auch CSU-Politiker wie Alexander Dobrindt, der eine konservative Revolution fordert, oder die neuen Rechten, die in 1968 das Symbol sehen, dass man die Welt gewissermaßen verloren hat. Eine größere Anerkennung für '68 kann es gar nicht geben. 
STANDARD: Welche Welt ist denn vor 50 Jahren verlorengegangen? 
Nassehi: 1968 ist auch ein Symbol dafür, dass die Gesellschaft inklusiver, durchlässiger geworden ist. Das kann man gerade, was Kindererziehung, Schule oder Berufsausbildung und Studium angeht, sehen. Eine Welt, in der die Schichten stabil waren, in der es ein Schulsystem gab, in dem die Leute am Beginn schon wussten, wie die Bildungskarriere am Ende aussehen wird, war eine relativ einfache Welt. Wenn die Welt komplizierter wird, muss man plötzlich darüber reden, nachdenken und neue Konzepte entwickeln. Unter dieser komplizierten Welt leiden viele. [...]" (derstandard.at/2000079939785/Soziologe-Armin-Nassehi-Heute-kommt-der-Wind-eher-von-rechts

Heinz Bude im Interview:
"Die sexuelle Liberalisierung hat viel früher angefangen, mit Hildegard Knef, mit der Zeitschrift Constanze und mit der Kunstflugpilotin Beate Uhse, mit dem, jedenfalls dem Jahrgang nach, Flakhelfer Oswalt Kolle. In den Interviews, die ich mit Protagonisten der Bewegung gemacht habe, spielt das Thema Sexualität überhaupt keine Rolle. 1968 hat das, was da längst im Gang war, eigentlich eher erschwert, indem es so philosophisch aufgeladen und zum Prinzip erhoben wurde. Gerade die Männer, mit denen ich gesprochen habe, waren da eigentlich eher verklemmt. Auch die Demokratie als Verfahren zur Ermittlung des Volkswillens haben die Achtundsechziger im Grunde eher verachtet. Man liebte die Revolution, nicht die Demokratie. Und selbst Auschwitz war 68 kein Thema. Oder nur sehr indirekt, wie in dem Diktum von Max Horkheimer: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen."

"ZEIT: Es gibt das berühmte Foto von der Kommune I, die sich nackt, wie vor einem Erschießungskommando, an die Wand gestellt hat. Man hat darin eine unbewusste Identifikation mit den Opfern der Nazis gesehen, so wie man auch die Literatur der jüdischen Remigranten verschlang: Adorno, Horkheimer, Marcuse. Auf verquere Weise habe man sich so die Schuld der Väter vom Hals gehalten. Andere Autoren wie Götz Aly sind dann noch weiter gegangen und haben die Achtundsechziger gleich selbst mit den Nazis verglichen.

Bude: Die Kommune I war die Happeningfabrik der frühen Apo. Eine Parade der Nackten. Vier Männer, drei Frauen stehen mit dem Rücken zur Kamera vor einer weißen Wand. Nur der kleine Junge ganz rechts an der Seite schaut zurück und fragt sich offenbar, was hier vor sich geht. Der Trick besteht doch darin, dass die sich wehrlos machen und dadurch das Bild in der Hand haben. Die Person mit der Kamera, die unbedingt auf Bilder aus war, konnte nur noch abdrücken. Die 68er-Methode besagt hier: Man tut was ganz anderes und hält dadurch die Fäden in der Hand. [...]" (https://www.zeit.de/2018/05/68er-bewegung-heinz-bude-interview/komplettansicht)


"[...] Mehr und mehr stieß mich der Fanatismus vieler Kommilitonen ab. Helmut Schmidt sprach damals von „elitärer Arroganz“, Jürgen Habermas von „linkem Faschismus“.- später rückte er von dieser Einschätzung ab. Ein ausgesprochen liberaler Professor wie Alexander Schwan wurde am OSI drangsaliert. Der marxistisch getränkte Dogmatismus, die ausgeprägte Intoleranz verbohrter Studenten, ihre Blindheit gegenüber dem kommunistischen Herrschaftssystem jenseits der Berliner Mauer – das alles missfiel mit sehr. Als der „Prager Frühling“ 1968 zu blühen begann, meinte ein Kommilitone, da breite sich doch wohl die Konterrevolution aus. Nicht wenige Studenten glaubten tatsächlich, von der Universität ausgehend lasse sich die gesamte Gesellschaft umstürzen. Manche schwärmten vom „Marsch durch die Institutionen“. Revolution galt vielfach als Zauberwort. Das war realitätsblind Ich habe nie verstanden, warum angeblich antiautoritär gestimmte Studenten von Che Guevara und Fidel Castro schwärmten, hinter Ho Tschi Minh- oder Mao-Plakaten herliefen und „Ho ho ho Tschi Minh“ skandierten. Sie ließen sich von der „Mao-Bibel“, den Worten des „Großen Vorsitzenden“, berauschen." (Hartmut Contenius frblog.de/1968)

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